Seit mittlerweile fast 30 Jahren künstlerisch tätig, bildet Fotografie bis heute den Kern von Lukas Einseles Arbeiten. Gleichzeitig zweifelte er stets an den Möglichkeiten des Mediums. Schließt sie ihn als Fotografierenden doch immer aus der abgebildeten Situation aus. Und auch ihr „Wahrheitsgehalt“ kann von Natur aus nur marginal sein,
ein Aspekt, mit dem er sich in seinen dokumentarischen Arbeiten kritisch beschäftigt und nach Auflösungen sucht. Entscheidend für die Aussagekraft einer Fotografie ist die Perspektive, aus der sie betrachtet wird. „All one Song“ steht für das Erkennen, dass ein Bild gar nicht immer auf dieselbe Weise verstanden werden muss und kann. Wird es entkoppelt von der Serie als Einzelbild in einen neuen Kontext gesetzt, besinnt es sich zunächst seiner selbst, kann eigene und neue Verbindungen eingehen.
Von ihrem ursprünglichen Kontext befreit, im Zusammenspiel mit installativen Momenten, zeigt Einsele in „All One Song„ Bilder aus verschiedensten Projekte der letzten 25 Jahre.
Mit einem Mal spielen übergeordnete Fragen eine Rolle, die vorher den Prinzipien und Aussagen der Serie untergeordnet waren. Gewissermaßen auf dem Seziertisch den Fragen
nach Struktur, Inhalt, Ausdruck, Sinnhaftigkeit persönlicher Bedeutung ausgeliefert, werden die Fotografien zu Teilen eines anderen, eines großen Ganzen. Der Blick auf sie
wird geweitet.
Durch nichts könnte die Intention eines Künstlers so erkennbar gemacht werden, wie durch das Präsentieren seiner Herangehensweise. Einsele sammelt, archiviert, sortiert, verschiebt permanent seinen Fokus. Sein stetes Interesse gilt den Zusammenhängen, den Verbindungen. Denn ist es nicht die Aufgabe eines Künstlers, Beziehungen freizulegen, um zu zeigen, wie die Dinge wirklich liegen, die uns in unserem Jetzt und Heute berühren?
Es passt zu Einseles naturwissenschaftlicher Herangehens- weise, Kunst auch physikalisch zu erklären: Um etwas hochzuheben, in eine höhere Form zu bringen, ist Energie erforderlich. Wenn während dieser Energiezufuhr etwas, sagen wir „Ungewöhnliches“ passiert, wenn ein Abweichen von der Norm zu erkennen ist, dann haben wir es im besten Falle mit Kunst zu tun.
Es sind die Brüche im System, die Einseles Interesse erwecken. Wo etwas bröckelt, kommt oft Wahres zum Vorschein. Dieses Bewusstsein ist fest in Einseles Werk verankert und
in komplexen Vorgängen des Sammelns, der (Aus-) Sortierung und Kombination erkennbar. Dadurch, dass er uns Einblick in seine Archivsituation, in seine Denkstruktur und prozesshafte Arbeitsweise bietet, macht er uns mitverantwortlich für die Perspektive, die wir einnehmen. Hier liegen Tausend-und-eine-Möglichkeit vor uns ausgebreitet und es ist an uns einen Standpunkt einzunehmen. Der Hypertext ist freigelegt, um den Betrachter zu einem eigenständigen aber bewussten und gebildeten Kommentar zu befähigen. Es sind die Strukturen, die Zusammenhänge, die zu einer Aussage führen. Es gehört immer alles zusammen.
„All One Song“ lädt ein in eine skurrile Situation zwischen Tatort, Spurensicherung und Wunderkammer. Einsele schärft den Blick auf die Wirklichkeit, ohne etwas Neues künstlich
zu erschaffen. Alles, was er zeigt, ist oder war wirklich da. Es bedarf nur des wachen Blickes. Aber das klingt leichter als es ist.